W I L D C H I L D
Gedanken zum Gespräch mit
Anne
Teil II
Ta·lent /Talént/ Substantiv, Neutrum [das]
Begabung, die jemanden zu ungewöhnlichen bzw. überdurchschnittlichen Leistungen auf einem bestimmten,
besonders auf künstlerischem Gebiet befähigt, "sie hat ein Talent zur Schauspielerei"
(Quelle: Oxford Languages, quasi Google)
“Ich kann viele Sachen, aber ich hab’ kein Talent,“ sagt Anne gerade, während sie mir von ihrer Zeit im Studium von Literaturwissenschaften erzählt.So richtig glauben kann ich das nicht, hat sie doch in meinen Augen Talente für so vieles.
Ihre Vorstellungskraft, ihre Kreativität und ihr Humor haben schon so einige harte Nüsse geknackt. Auch mich. Ohne ihre Inspiration wieder mit einem Blog zu starten, wären wir jetzt nicht hier, an Annes Marmortisch.
Doch wie wichtig ist es überhaupt ein Talent zu haben? “Ich glaube, es ist nicht wichtig. Es kann identitätsstiftend sein. Es kann helfen auf dem Weg. Ein Talent rettet aber nicht vor Unsicherheit oder Traurigkeit. Ich kenne viele, die unglaublich beschenkt sind mit Talenten, oder krasse Autodidakten sind. Man muss aber eben etwas draus machen.”
Ist die Frage, was ist eigentlich ein Talent? Auf einer Ausbildungs- und Weiterbildungswebsite finde ich dies: Talent ist ein wiederkehrendes Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster. Für jede hervorragend ausgeführte Rolle und Funktion braucht es Talent. Mhm. Vielleicht ist es auch nicht das richtige Wort an dieser Stelle. Klar, ein Talent oder Begabung ist zum Beispiel, wenn jemand besonders gut Klavier spielen kann, oder wenn jemand nur durch Hören Sprachen lernen kann. Diese Beispiele sind relativ eindeutig. Doch was, wenn man sowas nicht hat? “Ich habe mir das oft gewünscht, etwas zu haben, was mich so reinzieht. Und ich glaube, dass man in dem, was die eigenen Stärken angeht, auch besser werden kann. Und das werde ich, das heißt auch gar nicht, dass ich nicht gut bin in den Sachen, die ich mache. Es heißt nur, dass ich nicht so ein ‘Gott gegebenes’ Talent habe.”
Schon als Kind habe ich mich gefragt, was mein ‘Gott gegebenes’ Talent wäre und bin nie zu einem Schluss gekommen. Ich dachte immer, nur ein Talent macht einen besonders und wichtig. Nur mit einem Talent würde ich glücklich werden können. Oder vielmehr Etwas, was für einen das besondere Thema ist, mit dem man sich sein Leben lang beschäftigen möchte. Also sei es jemand interessiert sich von Kindesbeinen an für Technik, Computer beispielsweise. Diese Person lernt so viel über das Thema, dass er oder sie später Expert*in wird, in dem Bereich arbeiten kann, Karriere macht oder etwas erfindet, was die Welt verändert, oder so. Was genau ist da das Talent oder die Stärke der Person? Vorstellungskraft, Fleiß, Kreativität, Hingabe, Neugier? Alles davon?
Ich frage mich auch ein bisschen, warum ich glaube bzw. glaubte, dass man Erfüllung nur mit einer Tätigkeit findet. Warum muss mich überhaupt etwas erfüllen? Ich merke: Eigentlich ist es nur eine andere Form der Sinnfrage. Warum bin ich hier? Was ist mein Sinn? Meine Therapeutin hat mal gesagt, dass es eigentlich kein Wunder ist, dass man Depression bekommt, wenn man sich diese Fragen stellt. Das meinte sie nicht als Witz. “Die größte Schwäche, die wir haben, ist, dass die Sachen, die wir besonders gut können, auch unsere Achillesferse sind und andersrum. Und dass Talente oder Sachen, die man gut kann, nie nur Licht sind.” Woher wissen wir, was wir gut können? Und wie lässt sich das verbinden mit dem, was wir tun? Durch Erfahrung? Durch Geduld? Durch erleben?
Ich fragte mich immer mehr, ob ich wirklich wissen muss, was meine so genannten Stärken sind. Also, ob ich es wirklich ausformulieren muss. Anstatt sie einfach zu leben. Und sie für mich sprechen zu lassen. Es kommt mir manchmal so vor, als sei es eine sehr kapitalistische Haltung, diese Fragen zu stellen. Als wäre man ein wertvollerer und wichtiger Mensch für die Gesellschaft, wenn man auch wirklich etwas beizutragen hat. Als sei man nicht schon wichtig und wertvoll, einfach nur weil man da ist.